Diese Woche hatte ich ein Gespräch mit einer Frau, die erst seit drei Wochen getrennt ist und von ihrem Partner verlassen wurde. Sie erzählte mir, dass sie den Schmerz kaum aushält und kaum noch weiß, wie sie durch den Tag kommen soll. Ehrlich gesagt, kenne ich die Situation selbst sehr gut. Und ich weiß auch, dass es vielen Menschen ganz genau so geht. Was mich dabei viel mehr erschreckt hat, waren die Kommentare aus ihrer Umgebung: „Du musst nach vorne schauen“, „Du musst jetzt für Deine Kinder stark sein“, „Du musst das akzeptieren und damit leben“, „Du musst….“
In wessen Schuhen gehen wir eigentlich?
Mal abgesehen davon, dass ich immer ganz erstaunt bin, dass andere Menschen, die nicht in denselben Schuhen gehen, so genau zu wissen scheinen, was derjenige nun tun und fühlen MUSS, macht es mich unglaublich wütend, weil ich es als extrem übergriffig empfinde, jemandem diesen Schmerz nicht einfach zuzugestehen.
Gleiches erlebe ich auch in der Trauerbegleitung und ich trenne dabei ganz bewusst nicht zwischen Trauer nach Trennung oder Trauer nach einem Todesfall. Trauer ist individuell und braucht Raum, um überwunden zu werden. Trauer passt in keine Kategorien, sie passt nicht in Zeitschienen oder in Bewertungen von außen. Sie ist nicht gebunden an Normen oder Altersgruppen. Jemand der einen alten Menschen verloren hat, darf genauso trauern, wie jemand, der einen jungen Partner verabschieden musste. Wer sind wir, darüber zu urteilen, wie groß der Schmerz sein darf, oder wann er beendet sein MUSS.
Mitgefühl für sich selbst empfinden
Das waren jetzt „nur“ ein paar Muss-Momente von außen – viel mehr Druck machen aber oft die Muss-Sätze, die wir den ganzen Tag selbst aussprechen oder als leise Stimme im Hinterkopf haben. Mitgefühl sich selbst gegenüber zu empfinden, ist meines Erachtens der Schlüssel bei sich zu sein und sich mit all seinen Bedürfnissen wahr zu nehmen. Auch alle MUSS-Momente! Wenn wir Mitgefühl mit uns selbst haben, spüren wir auch in uns hinein, was gerade dran ist. Wo die Reise hingehen soll und was wir brauchen.
Müssen tu ich gar nichts, ausser sterben!
Mein Opa hat früher oft gesagt, „müssen tu ich gar nix – ich muss nur sterben“. Ich fand das ziemlich blöd als Kind und es hat 40 Jahre gedauert, bis ich endlich darauf gekommen bin, dass dieser Satz auch für mich gilt. Ich muss niemandem gefallen, es wäre aber schon ganz schön, wenn ich morgens noch mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen könnte. Und ja, natürlich haben wir diverse Sachzwänge. Wenn ich morgen nicht arbeite, werde ich am Ende des Monats vermutlich kein Geld auf dem Konto haben. Wenn ich meine Miete nicht bezahle, fliege ich aus der Wohnung. Wenn ich mich nicht um die Weihnachtsgeschenke kümmere, habe ich traurige Kindergesichter unter dem Weihnachtsbaum. Das alles ist aber kein Zwang, sondern eine Entscheidung, denn ich möchte ja Geld verdienen und mein schönes Zuhause möchte ich auch haben. Und ich bekomme ein warmes Herz, wenn ich die Strahleaugen meiner Kinder sehe.
Müssen macht Stress
Müssen macht total viel Stress, es macht Druck und vermittelt wenig Leichtigkeit. Jeder Satz und jede Aufgabe die mit MUSS anfängt, ist nur noch halb so lustig. Probier doch einfach mal aus, einen Muss-Satz mit „ich möchte“ oder mit „ich darf“ oder „ich kann“ oder „ich werde“ anzufangen. Hier ein paar Beispiele zum Antasten:
Ich muss zur Arbeit – Ich kann zur Arbeit fahren, wieviele haben nicht das Glück zur Arbeit fahren zu dürfen?
Ich muss mein Kind zum Fussball begleiten – Ich darf mein Kind zum Fussball begleiten (irgendwann ist das sicher total uncool 😉
Ich muss noch packen – Ich werde noch packen, damit wir in Urlaub können. Wie schön, dass wir uns einen Urlaub leisten können!
Ich muss den anderen helfen – Ich freue mich, dass ich den anderen helfen darf. Es ist eine Gabe, hilfreich für andere zu sein und dadurch soviel an Emotionen wieder zurück zu bekommen.
Ich muss glücklich sein oder werden – Wirklich? Muss ich? Muss ich immer glücklich sein? Ich darf glücklich sein, ich darf aber auch unglücklich sein! Wer nie unglücklich war, weiß gar nicht, wie großartig glücklich sein ist!
Es geht nicht darum, alle MÜSSEN aus unserem Leben zu streichen – es geht vielmehr darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Und wenn Du das nächste Mal den Menschen in Deinem Umfeld zuhörst oder vielleicht auch Dir selbst, dann kannst Du dabei lächeln und aus dem MÜSSEN ein WOLLEN, DÜRFEN oder KÖNNEN machen. Und wenn Dir jemand vorwirft, was Du machen MUSST, dann kannst Du einfach sagen „Danke für den Tipp, aber ich muss gar nichts!“
Alles Liebe und viel Spaß dabei 🙂
Eure
Petra